Taijiquan bei fortgeschrittener Hüftgelenksarthrose. Ein Erfahrungsbericht.
Taijiquan bei fortgeschrittener Hüftgelenksarthrose.
Ein Erfahrungsbericht.
Peter Minder, Vorstand CWTACH
In meinem „Jahresbuch“, in welchem ich die mir wichtigen Ereignisse eines Jahres festhalte, steht im Jahr 2004: „Ich habe festgestellt, dass Taijiquan als einzige Massnahme gut gegen die Hüftbeschwerden wirkt“. Dies, nachdem ich acht Jahre zuvor mein jahrzehntelanges Karatedotraining wegen zunehmender Beschwerden infolge einer Hüftgelenksarthrose aufgegeben und begonnen hatte, bei Magdalena Solari Chen Taijiquan zu üben.
Da ich damals noch relativ jung gewesen bin, habe ich versucht, einen operativen Eingriff möglichst lange herauszuschieben. Taijiquan statt Karatedo, Walking statt Jogging, Velofahren statt Wandern, zeitweise Unterstützung durch eine Rolfingtherapeutin - trotzdem hat sich der Bewegungsradius zunehmend verkleinert. Und dann habe ich festgestellt, dass ich, wenn ich vor einer morgendlichen Walkingrunde statt danach, eine halbe Stunde Taijiquan übe, mir dies, was wegen der Schmerzen nicht mehr gegangen ist, wieder möglich und sogar gut möglich wurde. Dankbar habe ich von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und so bis kurz vor der schlussendlich unumgänglichen Operation meine Aktivität aufrechterhalten können - was sich auch in der Rehabilitationszeit positiv ausgewirkt hat.
Jetzt, 21 Jahre später, litt ich an zunehmenden Beschwerden im anderen Hüftgelenk und wollte diesmal den Hüftgelenksersatz nicht bis zur praktischen Gehunfähigkeit herauszögern. Und wiederum habe ich die positiven Effekte des Taijiquan feststellen können, diesmal etwas differenzierter beobachtet: während zu lange (ganztägige) Trainings zu Reizung und Aktivierung des degenerativ veränderten Gelenkes führten, hatten kurze, 1-2 Stunden dauernde Einheiten regelmässig einen sehr wohltuenden Effekt erzeugt. Am meisten erstaunt hat mich jeweils, wie ich mich während des Trainings praktisch schmerzfrei, locker und fliessend bewegen konnte, was sonst im Alltag kaum mehr möglich war. Und diese Schmerzreduktion und Lockerheit hielt auch jeweils nach den Trainings an, im Gegensatz zu anderen Bewegungsarten, zum Beispiel Wandern, welches lange anhaltende Schmerzen auslösen konnte.
Ich habe mich gefragt, was denn diesen Unterschied ausmachen könnte. Die kurze und einfache Antwort wäre: der Qi Fluss („Qi Flow“). Die chinesische Philosophie würde es mit den „Drei Schätzen“ (San Bao) erklären - shen, der geistige Aspekt, qi, der energetische Aspekt und jing, der materielle, körperliche Aspekt. Jeweils ein Paar dieser Elemente beeinflusst und unterstützt das dritte Element: Wenn wir in entspanntem, fokussierten Geisteszustand (shen) möglichst genau unsere Bewegungen (jing) ausführen, so bringen wir qi zum Fliessen. Und wenn wir mit unseren Gedanken (shen) die Energie (qi) lenken, so wirkt sich das auf der materiellen Ebene (jing) aus und Schmerzen und Beweglichkeit werden beeinflusst.
Soweit die Theorie. In der Praxis ist sicher der ruhige, entspannte und fokussierte Geisteszustand (shen) die Grundvoraussetzung. Er wird erreicht in der Vorbereitungsphase und natürlich während des „Standing“ (Stehende Säule, zhang zhuang). Mit fortschreitender Erfahrung wird es uns leichter gelingen, diesen Zustand zu erreichen und wir werden tiefer in ihn eindringen können.
Dieser Zustand ermöglicht uns, mit Sorgfalt und Achtsamkeit die Bewegungen der „Aufwärmübungen“, des „Reeling Silk“ (Seidenfadenübung, Chansigong) und der Taijiquan-Formen auszuführen (jing). Dadurch kommen wir in einen Zustand, wo Qi kräftig fliesst. Und es ist spielt überhaupt keine Rolle, ob wir diesen Fluss spüren können oder nicht - ich konnte ihn vor 21 Jahren nicht spüren, trotzdem hat er seine Wirkung ausgeübt. Shen – unser Geist, unsere Gedanken erschaffen die Realität - alles, was wir sind, ist das Resultat unserer Gedanken. Wenn wir mit unseren Gedanken beispielsweise während unserer Qi Gong Atemübung („Qi Dusche“) das Qi aus dem Baihui sprudeln und über die Vorder- oder Rückseite des Körpers herunterfliesssen lassen, so werden wir diesen Fluss irgendwann wahrnehmen. Mit fortschreitender Erfahrung werden wir ihn stärker wahrnehmen, dank der wachsenden Fähigkeit, den Geist immer besser zu fokussieren. Unsere Gedanken erschaffen also die Empfindung des Qi Flusses, und wir lernen auch, ihn mit unseren Gedanken zu lenken.
Durch die sorgfältig und fliessend ausgeübten Übungen werden die Gelenke schonend mobilisiert, die Gelenksflüssigkeit wird verteilt, „schmiert“ die Gelenke, ernährt den verbleibenden Knorpel und die Entzündungsstoffe werden abtransportiert. Diese Vorstellung könnte den günstigen Effekt bei arthrotischen Beschwerden erklären. Selbstverständlich wird die Abnützung selber nicht rückgängig gemacht, und, wie oben erwähnt, muss die Zeitdauer des Übens beachtet werden, um nicht eine Entzündung durch Überbelastung auszulösen.
Durch fortschreitende Erfahrung werden wir auch lernen, die Bewegungen immer genauer, immer sorgfältiger auszuführen und werden so immer mehr von den günstigen Effekten profitieren können.
Und das Beste ist: Die positiven Auswirkungen lassen sich unmittelbar erfahren. Man muss nicht jung und stark sein, man muss an nichts glauben, keine Theorie kennen, nichts wissen - man muss einfach üben, so wie es uns von unseren Lehrern gezeigt wird. Die Effekte werden sich einstellen, so wie sie sich bei mir vor 21 Jahren eingestellt haben.
Und so habe ich auch jetzt wieder bestätigen können, dass ich dank Taijiquan die Möglichkeit, mich zu bewegen bis unmittelbar vor die Operation hin erhalten konnte, Taijiquan Trainings nehmen und sogar geben konnte, tägliches Üben, Walkingrunden drehen (da ich mich inzwischen auch intensiv mit Qi Gong befasst habe, habe ich festgestellt, dass das vorgängige auslösen des „Qi Flow“ durch eine einfache Übung wie zum Beispiel das „Himmel anheben“ ausreichend war, um den positiven Effekt auszulösen).
Und auch die negative Bestätigung habe ich erhalten: Nachdem ich mich eines Morgens ohne Vorbereitung für zwanzig Minuten auf den Hometrainer gesetzt hatte, musste ich dafür mit stark vermehrten Hüftgelenks- und Rückenschmerzen bezahlen.
Auch nach der Operation habe ich die positiven Effekte des Qi Flusses feststellen können. Eine Operation, die mentale Belastung (Angst, Stress), die Narkose, die vielen Medikamente, die Schmerzen etc. lösen im Organismus eine „Schockstarre“ aus - „das Qi ist blockiert“. Nachdem ich am dritten Tag nach der Operation nach Hause entlassen worden bin, konnte ich ab dem vierten Tag beginnen, täglich zweimal den Qi Fluss mit einer einfachen Qi Gong Übung („Himmel anheben“) anzuregen und dabei gemerkt, wie sich diese Blockade schnell aufzulösen begann, was sich nebst besserem Allgemeinempfinden in besserem Schlaf, besserer Verdauung und weniger Schmerzen bemerkbar gemacht hat.
Nach zwei Wochen habe ich zusätzlich vorsichtig mit Taijiquan Übungen begonnen: Standing und Reeling Silk. Nach fünf Wochen – jetzt ohne Gehstöcke – konnte ich wieder beginnen, die Formen zu üben. Der Rehabilitationsverlauf war für mein Empfinden, und auch für dasjenige der begleitenden Physiotherapeutin, erstaunlich schnell und unkompliziert.
Eine Arthrose (Abnützung bis hin zum vollständigen Verschwinden der als Gleitfläche dienenden Knorpelschicht) bleibt über lange Zeit (Jahre bis Jahrzehnte) schmerzlos und macht sich allenfalls durch zunehmende Bewegungseinschränkung bemerkbar. Dann, meist nach einer Überbelastung, rufen die abgenützten Gelenkselement eine Entzündung hervor, welche schmerzhaft ist. In der Regel klingen diese Schmerzen unter „vernünftiger“ Weiterbelastung innert einiger Wochen ab. Nach meiner Erfahrung möchte ich dazu raten, an eine Operation zu denken, wenn die Schmerzen über etwa ein halbes Jahr anhalten. Sie werden dann kaum mehr verschwinden, sondern zunehmen und dazu führen, dass wir uns kaum mehr bewegen. Da die Muskulatur bei Nichtgebrauch sich rasant zurückbildet führt das zu einem längeren und komplizierten Rehabilitationsverlauf.
Ich habe diesen Erfahrungsbericht geschrieben in der Hoffnung darauf, Betroffenen Mut zu machen und sie zu ermutigen, eigene Erfahrungen damit zu sammeln.