Qi Gong Atemübungen
Eine praktische Anleitung - Teil 1
von Peter Minder1
Die Atmung im Qi Gong
Im indischen Yoga sind Atemtechniken eng mit der Meditation, deren Konsequenz die transzendentale Weisheit ist, verbunden. Auch in China wurden meditative Atemübungen zur Verwirklichung des Tao geübt. So finden wir zum Beispiel schon in einem frühen Gedicht des Chu Yüan (starb etwa 288 v. Chr.) mit dem Titel „In der Ferne Wandern“ die Andeutung einer Technik zur Erlangung des Tao durch kontrolliertes Atmen:
„Iss die sechs Arten von Luft und trink klaren Tau, um die Reinheit der Seele zu bewahren.
Atme die Essenz der Luft ein und atme die faule Luft aus.
Das Tao ist winzig und ohne Inhalt, und doch ist es riesig und grenzenlos.
Verwirre deine Seele nicht – es wird spontan sich zeigen.
Sammle dich im Atem, und Tao wird auch in tiefer Nacht bei dir verweilen“.2
Im Qi Gong („Kunst der Energie“) haben wir zum Ziel die Anregung des Energieflusses. Wir erreichen dieses Ziel durch die Vereinigung der „Drei Schätze“ (San Bao) Jing, Qi und Shen (s. auch: 3 Schätze JING QI SHEN, von Daniela Wegmüller und Oliver Zimmermann). Jing, der körperliche, materielle Aspekt, wird aktiviert durch die korrekt durchgeführten Übungen. Qi, die Lebensenergie, wird aktiviert durch die bewusste Atmung und Shen, der geistige Aspekt wird aktiviert durch den bewusst herbeigeführten „Qi Gong Geisteszustand“ (s.u.).
Der Atem ist das Bindeglied, er läuft sowohl unbewusst ab, ist aber auch bewusst beeinflussbar – deshalb: Der Atem ist die Verbindung zwischen Körper und Geist, er ist das Tor zum Unterbewusstsein.
Und so, wie der Atem das Bindeglied zwischen Jing und Shen darstellt, so stehen die Atemübungen im Qi Gong vermittelnd auf der Stufe zwischen den vorwiegend körperlichen Qi Gong Übungen (zum Beispiel Yi Jin Jing nach Chen Xiaowang) und den spirituellen Formen (zum Beispiel Wuji Qi Gong, Meditation).
Diese Anleitung führt über 5 Stufen, von der „Bauchatmung“ bis zum „Kleinen Universum“, wo ein kontinuierlicher, ständiger Energiefluss entlang des Ren Mai und des Du Mai Meridians erzeugt wird.
Die alten Qi Gong Meister sagten, dass durch den Durchbruch des „Kleinen Universums“ hundert Krankheiten eliminiert werden. (Mit dem Durchbruch des „Grossen Universum“ - wo alle 12 Hauptmeridiane ständig von Energie durchflossen werden - werde man hundert Jahre leben…)
Voraussetzungen
Die Voraussetzung, dass mit Atemübungen Fortschritte erzielt werden, ist, wie sicher auch für Qi Gong und wohl auch für Taijiquan, dass täglich geübt wird. Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass die Basis das tägliche Qi Gong Üben bildet. Wenn dies nach einer geeigneten Methode geschieht, so reichen dafür allerdings 10-15 Minuten, ein-, allenfalls zweimal täglich. Für die anschliessenden Atemübungen sind ebenfalls 5-10 Minuten einzurechnen, und sehr zu empfehlen ist noch 5-10 Minuten Standing Meditation anzufügen. 20 – 30 Minuten pro Tag für sich, ganz bei sich zu sein – jede/r muss entscheiden, ob dies Zeit „geopfert“ werden kann.
Zu den Voraussetzungen gehört auch, dass man die angegebene Zeitdauer für die einzelnen Stufen einhält; sie sind als Minimaldauer anzusehen. Durch Abkürzen wird man das Ziel nicht schneller erreichen. Der Grund für die vermeintlich lange Zeitdauer ist, dass in dieser Zeit die Konzentration geschult wird, das Visualisieren und Lenken des Qi Flusses wird erlernt und geübt – und das benötigt erfahrungsgemäss die angegebene Zeit.
Eine weitere Voraussetzung ist, dass die Übungen im „Qi Gong Geisteszustand“ gemacht werden, d.h. körperlich entspannt und geistig möglichst frei von ablenkenden Gedanken.3
Praktischer Ablauf
Zum Üben geeignete Tageszeiten sind morgens (z.B. nach dem Aufstehen) und abends (z.B. vor dem zu Bett gehen. Ungünstig ist es, über Mittag zu üben.
Stell sicher, dass du für die Zeit, in der du üben willst, ungestört bist (Handy, Musik, Familienangehörige, Haustiere…).
Übe immer in einem gut gelüfteten Raum, besser noch mit geöffnetem Fenster, oder noch besser im Freien.
Beginne die Sitzung, indem du einige kräftige Schritte herumgehst.
Stell dich dann im Wuji-Stand4 hin und versetze dich in den Qi Gong Geisteszustand.
Absolviere deine Übungseinheit.
Schliess ab mit mindestens 10 Atemzügen in Standing Meditation (im Wuji- Stand oder im Zhan Zhuang-Stand). Geniesse die Stille. Zum Abschluss kurz ans Dantian denken.
Um aus dem Qi Gong Geisteszustand wieder in den „Alltagsmodus“ zurückzukehren, empfiehlt sich die Abschlussroutine5.
Anschliessend noch einmal tief ausatmen und einige kräftige Schritte herumgehen.
1. Stufe: Bauchatmung (Abdominal Breathing)
Auch wenn die meisten von uns sich schon lange mit Bauchatmung beschäftigt haben – ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass es sich sehr lohnt, noch einmal ganz an der Basis zu beginnen und den vorgeschlagenen Ablauf nachzuvollziehen.
Stadium 1
Steh im Wuji Stand, entspann deinen Körper und leere den Geist. Leg eine Hand (Frauen die rechte, Männer die linke) sanft auf den Unterbauch, auf den Vitalpunkt Qihai (etwa 4 Fingerbreit unter dem Nabel). Leg die andere Hand über die erste – Laogong (Mitte der Handfläche) auf Laogong über Qihai. Schliess die Augen und öffne den Mund leicht.
Drück sanft und kontinuierlich mit den Händen auf den Unterbauch, dieser geht unter den Händen zurück. Mach eine kurze Pause, dann lass die Hände sanft los. Der Unterbauch dehnt sich wieder aus.
Denk nicht an den Atem, konzentriere dich auf das mechanische Drücken und Loslassen, und auf das Zurückweichen uns Ausdehnen des Unterbauches.
Wiederhol diesen Ablauf etwa zehn Mal.
Lass die Hände sinken, steh im Wuji Stand, geniess die Stille und versuch, an nichts zu denken, mindesten während zehn Atemzügen (oder länger, wenn du magst).
Schliess ab mit der Abschlussroutine (s.o.).
Mach diese Übung täglich, morgens, und, wenn du magst, abends, während mindestens 3 Wochen. Steigere die Anzahl der Atemzyklen in diesem Zeitraum langsam bis etwa auf 30.
Stadium 2
Gleich wie Stadium 1, aber jetzt stellst du dir vor, dass beim Drücken die schlechte Energie aus deinem Unterbauch hinausgedrückt wird. Schlechte Energie können sein: Abbauprodukte des Stoffwechsels, negative Gefühle, Krankheit oder Schmerzen, was auch immer du nicht willst. In anderen Worten, du drückst allen Abfall aus deinem Bauch oder sonst wo in deinem Körper hinaus.
Dann, wenn du loslässt, stell dir vor, gute, frische kosmische Energie fliesse durch deine Nase auf der inneren Vorderseite deines Körpers hinunter in den Unterbauch. Diese Visualisierung muss sanft erfolgen, wenn du es als zu anstrengend empfindest, so reichen einige Zyklen mit Visualisieren, anschliessend einfach wieder Drücken und Loslassen – einmal angestossen wird die Reinigung von selber weiterlaufen.
Wiederhol diesen Ablauf etwa zehn Mal. Abschluss wie oben.
Mach auch diese Übung täglich, morgens, und, wenn du magst, abends, während mindestens 3 Wochen. Steigere die Anzahl der Atemzyklen in diesem Zeitraum langsam bis etwa auf 30.
Stadium 3
Gleich wie Stadium 2, aber jetzt realisierst du, während du den Abfall aus dem Unterbauch hinausdrückst, dass dies mit dem Ausatmen durch den leicht geöffneten Mund geschieht. Und du spürst, dass die die frische kosmische Energie durch die Nase hineinfliesst, wenn du den Druck loslässt. Die Atmung soll sanft und leise erfolgen, du kannst dir vorstellen, der Atem sei ein langer, dünner Faden. Es kann auch helfen, beim Drücken das Gefühl zu haben – es findet kaum eine Bewegung statt -, das Steissbein kippe sanft nach vorne, und beim Loslassen, wenn der Unterbauch sich vorwölbt, leicht nach hinten.
Wiederhol diesen Ablauf etwa zehn Mal. Abschluss wie oben.
Mach auch diese Übung täglich, morgens, und, wenn du magst, abends, während mindestens 3 Wochen. Steigere die Anzahl der Atemzyklen in diesem Zeitraum langsam bis etwa auf 30.
Dieser ganze Ablauf dauert also etwa 2 – 3 Monate, erst dann erfolgt der Übergang zur nächsten Stufe.
Falls du dich entschliesst, dieser Anleitung zu folgen, so wirst du dich auf eine Reise begeben. Du wirst Neues erleben, bisher Unbekanntes sehen und vielleicht zu neuen Ansichten und Einsichten gelangen.
Es lohnt sich, für dich einen Erfahrungsbericht zu erstellen und die neuen Aspekte darin festzuhalten. Der menschliche Geist ist so beschaffen, dass er zum jeweils jetzigen Zeitpunkt alles für schon-immer-da-gewesen hält – mit dem Erfahrungsbericht hast du deine Entwicklung dokumentiert und kannst später deine Fortschritte nachvollziehen.
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Quellen und Fussnoten:
1Quellen: Wong Kiew Kit: The Art of Chi Kung, Cosmos 2014; Chi Kung for Health and Vitality, Cosmos 2014; www.shaolin.org,
Leo Lackinger: Onlineseminar; www.shaolin-wahnam-wien.at, div. Literatur und eigene Erfahrungen
2Chang Chuang-Yuan, Tao, Zen und die schöpferische Kraft, Diederichs 1975, S. 112
3Ein Vorschlag für einen Ablauf in 12 Schritten, um den Qi Gong Geisteszustand zu erreichen:
- Steh im Wuji-Stand (s.u.)
- schliess die Augen
- das Einatmen erfolgt durch die Nase, das Ausatmen durch den leicht geöffneten Mund
- beim Einatmen stellst du dir jeweils einen Punkt etwa faustbreit über und etwas hinter dem Bahui (höchste Punkt auf dem Scheitel) vor
- beim 1. Ausatmen folgt die Aufmerksamkeit der senkrechten Mittelachse nach unten
- beim 2. Ausatmen entspannst du das Gesicht und lächelst
- beim 3. Ausatmen wird der Nacken lang
- beim 4. Ausatmen verbinden sich die Schultern mit den Hüften
- beim 5. Ausatmen verbinden sich die Ellenbogen mit den Knien
- beim 6. Ausatmen verbinden sich die Hände mit den Füssen
- beim 7. Ausatmen wird die Brust hohl und der Bauch entspannt sich
- beim 8. Ausatmen wird die Wirbelsäule lang und das Becken hängt
- beim 9. Ausatmen entspannen sich Gesäss und die Hüftgelenke in die Oberschenkel
- beim 10. Ausatmen entspannen sich die Knie in die Unterschenkel
- beim 11. Ausatmen entspannen sich die Füsse in den Boden
- beim 12. Ausatmen lässt du alle unnötigen Gedanken los.
4Wuji Stand: „Stehende Säule“: Füsse parallel, nahe beieinander, etwa faustbreiter Abstand zwischen den Innenknöcheln, Beine gerade, Knie aber nicht durchgestreckt, Kopf aufrecht, Nacken lang, Schultern entspannt gesunken, Arme seitlich hängend, Hände offen, Handflächen gegen den Körper gerichtet – aus verschiedenen Gründen ist dieser Stand geeigneter als der üblicherweise für Zhan Zhuang verwendete Stand mit schulterbreitem Stand, leicht gebeugten Knien und angewinkelten Armen.
(Die Diskussion des Begriffes „Wuji“ erfolgt später).
5Abschlussroutine: Hände vor der Brust reiben – Handballen auf geschlossene Augen auflegen – mit Fingerspitzen geschlossene Augenlider klopfen – Fingerspitzen auf die Augenbrauen legen und die Augen öffnen – mit Fingerspitzen um die Augen kreisen – grösser werden, „Gesicht waschen“ – kreisförmig über Kopf und Nacken streichen – Punktmassage: mit Zeige- oder Mittelfinger die folgenden Punkte drücken, massieren oder klopfen: innerer Augenwinkel – inneres Ende der Augenbraue - Augenbrauen gegen aussen hin ausstreichen 5x – Mitte der Augenbrauen – äusseres Ende der Augenbrauen - neben den Augen aussen – mittig unter den Augen – zurück zum inneren Augenwinkel – Nasenfalte nach unten streichen 5 x – neben den Nasenflügeln - Schläfen mit Daumenballen kreisend reiben - unter den Ohren – 24x Himmelstrommel schlagen (mit Handballen Ohren verschliessen, mit Zeigefinger gegen Hinterkopf schnippen).