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Qi Gong Atemübungen Teil 3

29. Oktober 2023

Qi Gong Atemübungen

Eine praktische Anleitung - Teil 3

von Peter Minder1

 Wir haben im 2. Teil der Anleitung die Energie von der Nase über die Vorderseite des Körpers bis zum Huiyin, dem Punkt zwischen Genitalorgan und Anus, hinuntergeführt – das entspricht dem Verlauf des Meridians Ren oder Ren Mai (Mai bedeutet Meridian). Im jetzigen 3. Teil werden wir die Energie auf der Rückseite des Körpers entlang der Wirbelsäule hoch bis zum Baihui, dem Scheitelpunkt, führen – das entspricht fast dem ganzen Verlauf des Du Mai.

Ren Mai - Du Mai

Neben den 12 paarig angelegten Hauptmeridianen, deren Aufgabe es ist, den Körper bis hinab in jede Zelle mit Energie zu versorgen, kennt das System der chinesischen Medizin 8 unpaarig angelegte Nebenmeridiane, deren Hauptaufgabe darin besteht, überschüssige Energie aufzunehmen, zu speichern, und bei Bedarf wieder an die Hauptmeridiane abzugeben. Die beiden wichtigsten sind der Ren Mai und der Du Mai.
Der Ren Mai, auch Konzeptionsgefäss genannt, verläuft auf der Vorderseite des Körpers auf der Mittellinie. Er beginnt auf der Zungenspitze, verläuft über den Kehlkopf und Brustbein zum Nabel und über den Unterbauch zum Vitalpunkt Huiyin auf dem Damm zwischen Genitalorgan und Anus. Auf dem Ren Mai liegen wichtige Punkte: Tanzong in der Mitte der Brust („Herznest“) und Qihai (Meer der Energie) etwa 3 Querfinger unterhalb des Nabels. Im Innern des Körpers, etwa 3 Querfinger unter dem Qihai befindet sich das Dantian des Unterbauches. Der Ren Mai wird als „See aller Yin Energie“ bezeichnet, weil er auf der Vorderseite des Körpers mit allen Yin Meridianen in Verbindung steht.
Der Du Mai, auch Gouverneur oder Lenkergefäss genannt, verläuft auf der Rückseite des Körpers, steht mit allen Yang Meridianen in Verbindung und wird deshalb als „See aller Yang Energie“ genannt. Er beginnt im Vitalpunkt Changqiang über der Spitze des Steissbeins und verläuft entlang der Wirbelsäule über den Nacken zum Baihui, dem Vitalpunkt auf dem Scheitel des Kopfes, über Stirn und Nase und endet am Gaumen. Auf ihm liegen u.a. die Vitalpunkte Mingmen zwischen 2. und 3. Lendenwirbel und Lingtai zwischen 5. und 6. Brustwirbel.
Der Mund und der Anus bilden somit natürliche Unterbrechungen zwischen den beiden eigenständigen Leitbahnen. Gelingt es eine Verbindung zwischen diesen herzustellen, spricht man vom „Kleinen Universellen Kreislauf“ (s. Teil 4 und 5).

3. Stufe: Lange Atmung (Long Breathing)

Steh im Wuji Stand, entspann Körper und Geist und schliess die Augen. Leg beide Hände auf Qihai über dem Dantian im Unterbauch.

  1. Praktiziere 5 Atemzüge lang die Bauchatmung (Abdominal Breathing, s. Teil 1) und anschliessend 5 Atemzüge lang die Überfliessende Atmung (Submerged Breathing, siehe Teil 2).
  2. Als nächstes atmest du durch die Nase ein und lässt die Energie über die Vorderseite des Körpers direkt bis zum Huiyin hinunterfliessen. Mach eine kurze Pause und dann, unter leichtem Druck der Hände auf den Unterbauch, atmest du durch den Mund aus und visualisierst, wie die kosmische Energie vom Huiyin in einem Bogen durch das Becken und den Unterbauch wieder hoch zum Qihai steigt und dann wieder sanft zum Huiyin hinunterfliesst. Mit dieser Schlaufe befinden wir uns noch immer auf der Yin Seite des Oberkörpers, wir häufen die Energie in der Yin Seite des Unterbauches an. Praktiziere diese Anhäufung etwa drei Wochen lang, bevor du zum nächsten Schritt übergehst, beginn mit 10-mal und steigere in diesem Zeitraum bis auf 20.
  3. Nach drei Wochen führst du den obigen Ablauf wieder 5-mal durch bevor du weitergehst.
  4. Im nächsten Schritt erfolgt nun der Übergang vom Ren Mai zum Du Mai, der Durchbruch vom Yin Meridian Ren zum Yang Meridian Du. Nach dem Einatmen und Hinunterführen der Energie zum Huiiyn machst du eine kurze Pause, dann spannst du kurz und sanft den Schliessmuskel des Anus an, um die Energie beim Ausatmen unter sanftem Druck der Hände die kurze Strecke zum Changqiang, dem Vitalpunkt über der Steissbeinspitze, und über das Kreuzbein weiter hoch zum Mingmen, dem Vitalpunkt zwischen dem 2. und 3. Lendenwirbel, zu leiten. Auch diesen Ablauf 5-mal wiederholen.
  5. Anschliessend steigt die Energie beim Ausatmen unter sanftem Druck der Hände weiter der Wirbelsäule entlang hoch bis zum Lingtai, dem Vitalpunkt zwischen dem 5. und 6. Brustwirbel, auch wieder 5-mal.
  6. Als letztes bringen wir die Energie beim Ausatmen vom Huiyin der ganzen Wirbelsäule entlang und via Nacken und Hinterkopf hoch zum Baihui, dem Vitalpunkt auf dem Scheitel des Kopfes. Du kannst dir vorstellen, dass der sanfte Druck der Hände auf den Unterbauch die hier angesammelte Energie bis zum Scheitelpunkt auf dem Kopf hinaufpresst.
    Einatmen durch die Nase – die Energie fliesst in Huiyin. Pause.
    Ausatmen durch den Mund – die Energie fliesst hoch zum Baihui. Pause.
    Wiederhol diesen Ablauf fünf Mal, steigere die Anzahl im Verlauf der nächsten 4 – 5 Wochen bis zu zehn Mal.

Du kannst die einzelnen Schritte jeweils einige Tage üben, bevor du zum nächsten Schritt übergehst, oder aber auch den ganzen Ablauf von Anfang an durchlaufen.
Nach 4 – 5 Wochen dann das Long Breathing ohne die Einzelschritte üben, also:
5-mal Abdominal Breathing, 5–mal Submerged Breathing, 5–mal die Yin Schlaufe im Unterbauch, dann 10-mal Long Breathing:
Einatmen durch die Nase, die Energie fliesst auf der Vorderseite des Körpers zu Huiyn – Pause
Ausatmen durch den Mund, die Energie steigt entlang der Wirbelsäule hoch bis zum Baihui – Pause.
Steigere die Anzahl der Long Breathing Atemzüge bis auf 20.

Dann: Lass die Hände sinken, steh im Wuji Stand, geniess die Stille und versuch, in der Standing Meditation an nichts zu denken, mindesten während zehn Atemzügen (oder länger, wenn du magst).
Beende diese Stehende Meditation, indem du kurz ans Dantian im Unterbauch denkst.
Zum Schluss dann wieder die Abschlussroutine (siehe Teil 1) und anschliessend einige kräftige Schritte herumgehen.
Mach diese Übung täglich, morgens, und, wenn du magst, abends.

Qi Flow – Qi und Shen bewegen Jing

Wenn du in der Standing Meditation, nach Abschliessen der Atemübungen, mit geschlossenen Augen ruhig und entspannt dastehst und die Stille geniesst, dann befindest du dich in einer Phase, welche als „Flowing Stillness“ (Fliessende Stille) bezeichnet wird. Das bedeutet, dass unsere intensive Beschäftigung mit dem Lenken des Qi dieses zum Fliessen gebracht hat.
Es kann aber auch sein, dass du dieses Fliessen als sanfte Bewegung empfindest – die Intention (Shen) hat das Qi zum Fliessen gebracht, was sich auf körperlicher Ebene (Jing) als Bewegung ausdrückt. Du empfindest vielleicht ein sanftes Schwanken, das Bedürfnis, den Kopf oder die Hüften zu kreisen. Gib dich dieser Bewegung hin, lass sie geschehen, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Entspann die Beine, du darfst einige Schritte herumgehen, entspann den Rücken und den Nacken, lass die Arme kreisen, was immer du Lust hast, alles ist erlaubt, solange es deinem inneren Bedürfnis entspricht. Geniesse diese Phase des „Qi Flow“ für einige Minuten – so lange, wie du magst.

Der „Qi Flow“ ist die Essenz des Qi Gong. In dieser Phase durchströmt das Qi den ganzen Körper und löst auf sanfte Weise Blockaden. Das Qi hat die Eigenschaft, immer vom höheren Niveau zum tieferen zu fliessen, das heisst, es fliesst dorthin, wo es gebraucht wird. Durch regelmässiges Üben und auslösen des Qi Flow kannst du also deinem Gesundheitszustand und deiner Vitalität viel Gutes tun.

Der Qi Flow kann ausgelöst werden durch Qi Gong Übungen im eigentlichen Sinne, durch die oben beschriebene Art von Atemübungen, aber auch durch Taijiquan – Techniken wie Reeling Silk oder die Formen.
Die Voraussetzungen sind der entspannte Geisteszustand (Qi Gong Geisteszustand), der entspannte Körperzustand und, dass man den Qi Flow zulässt. Das ist das Prinzip Wuwei – das bedeutet: Nichts tun, einfach geschehen lassen - und alles erhalten. Ein geniales Prinzip!

Die Phase des Qi Flow, in welchem leichten Schwanken, Kreisen auftritt, nennt sich „Flowing Breeze, Swaying Willows“ (Sanfte Brise, wogende Weiden). Werden die Bewegungen stärker, ausladender, bis hin zum Taumeln, so nennt sich das „Flowing Water, Floating Clouds“ (Fliessendes Wasser, treibende Wolken). Noch stärkere Bewegungen, bis hin zu Schreien und rollen auf dem Boden können in einem späteren Stadium auftreten, man bezeichnet sie als „Selbstmanifestierende Qi Bewegungen“. Wenn immer dir die Bewegungen unangenehm werden sollten, denk an dein Dantian im Unterbauch, und sie werden sich abschwächen.
Im Laufe der Qi Gong-Praxis steigert sich das Ausmass der Bewegung üblicherweise von kleinsten Schwingungen bei den meisten bis hin zu heftigen Bewegungen. Zuletzt aber schließt sich der Kreis und der Qi Flow von Meistern wird äusserlich wieder sanfter und ruhiger, während der Energiefluss innerlich sehr kraftvoll sein kann.

Nach etwa 5-10 Minuten lassen wir die Bewegungen kleiner werden, indem wir ans Dantian im Unterbauch denken. Kehr in den Wuji Stand zurück, geniess die Stille und versuch, in der Standing Meditation an nichts zu denken, mindesten während zehn Atemzügen (oder länger, wenn du magst).
Beende diese Stehende Meditation, indem du kurz ans Dantian im Unterbauch denkst.
Zum Schluss dann wieder die Abschlussroutine (s. Teil 1) und anschliessend einige kräftige Schritte herumgehen.

Wenn du nach den Atemübungen in der Standing Meditation noch keine Bewegung verspüren solltest – sorge dich nicht, geniesse einfach die „Flowing Stillness“. In der Regel treten die Bewegungen bei regelmässigem Üben nach einigen Wochen, spätestens nach einigen Monaten auf.

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Quellen und Fussnoten:

1Quellen: Wong Kiew Kit: The Art of Chi Kung, Cosmos 2014; Chi Kung for Health and Vitality, Cosmos 2014; www.shaolin.org
Leo Lackinger: Onlineseminar; www.shaolin-wahnam-wien.at, div. Literatur und eigene Erfahrungen

2Dantian (sprich: Dan Tién) bedeutet Energiefeld und ist von undefiniertem Ausmass – im Unterschied zu den viel umschriebeneren, an der Körperoberfläche liegenden, Vital- oder Akupunkturpunkten. Je nach Quelle werden noch 3-5 weitere Dantian aufgeführt; für uns das Wichtigste ist das beschriebene Dantian im Unterbauch.

3Auch „Kleines Universum“, „Kleiner Himmlischer Kreislauf“, „Mikrokosmischer Orbit“ genannt

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